Rezension: Barrierefreiheit verstehen und umsetzen

Cover des Buches Barrierefreiheit verstehen und umsetzenSpricht man von Barrierefreiheit geht es immer um Richtlinien. Verbote und Gebote stehen im Vordergrund. Alles ist humor- und freudlos. Es geht nie um Spass oder um Experimente. Deshalb ist es niemals vergnügungssteuerpflichtig, sich mit Informationen über barrierefreie Webseiten auseinanderzusetzen. Auch das Buch von Jan Eric Hellbusch und Kerstin Probiesch, „Barrierefreiheit verstehen und umsetzen„, macht da keine Ausnahme. Es kann keine Ausnahme machen.

Immer wieder kommen die Autoren auf Richtlinien, Standards, Anforderungen, Ansprüche zurück. So kann man schon nach 40 Seiten den Eindruck gewinnen, Barrierefreiheit sei mit Freudlosigkeit und Bürokratie gleichzusetzen. Es ist dies auch mein Eindruck von der deutschen Accessibility-Community, die ich nur am Rande verfolge. In deren Diskussionen geht es oft um Details. Und um diese Details wird mit Leidenschaft gekämpft.

Ein Buch, das den aktuellen Stand der Diskussionen kanalisiert und zusammenfasst ist für alle Beteiligten – vor allem Entwickler – ein grosser Gewinn. Doch Barrierefreiheit fängt bei der Konzeption an, sollte nie nachgelagert in „Phase 2“ behandelt werden. Deshalb ist es genauso wichtig, dass sich Konzepter, Designer und Kunden mit der Materie auseinandersetzen. Hier hilft das Buch in zweierlei Hinsicht:

  1. In Teil 1 werden unterschiedliche Behinderungen und damit auch unterschiedliche Ansprüche an die Webseite thematisiert. Hier wird jedem klar, dass Barrierefreiheit nicht „für Blinde optimiert“ bedeutet.
  2. Der sehr umfangreiche technische Teil sollte allen „Nicht-Technikern“ die Komplexität des Unterfangens eindringlich vor Augen führen. Eine barrierefreie Seite entsteht nicht anstrengungslos nebenher. Das zeigen die vielen hundert Seiten des Buches.

Das Buch von Jan Eric Hellbusch und Kerstin Probiesch hat knappe 750 Seiten Inhalte und ist somit keine handliche, schnell lesbare Lektüre für den Öffentlichen Nahverkehr. Es hat 20 Kapitel, die in fünf Abschnitte aufgeteilt sind:

  1. Gedanken (Wichtige, einführende Betrachtungen, die den Gegenstand des Buches klar machen.)
  2. Experimente (In die Irre führender Titel, da es nur um HTML- und CSS-Basics geht.)
  3. Inhalte (Barrierefreiheit mit Texten, Bildern und PDFs.)
  4. Vorlagen (Technische Anforderungen an die Umsetzung des Layouts.)
  5. Screendesign (Was haben die Designer bei ihrer Arbeit zu beachten?)

Im ersten Abschnitt werden viele Grundüberlegungen angesprochen, die für die Erstellung einer Webseite mit möglichst wenigen Barrieren wichtig sind. Insbesondere Kapitel 2.2 ist jedem ans Herz gelegt. Hier setzen sich die Autoren mit gängigen Vorurteilen und Bedenken gegenüber Barrierefreiheit auseinander. Die Statements sind pointiert und wichtig.

Kapitel 2.3.3.1 (ja, so tief wird in diesem Buch geschachtelt) ist ein kleines Juwel. Hier wird die WCAG2 auf knappe, leicht erfassbare und merkbare Kernsätze heruntergebrochen. Hier werden übrigens auch die nicht intuitiv verständlichen Icons erklärt, die später die Inhalte bereichern.

Das erste Kapitel des zweiten Abschnittes ist in meinen Augen überflüssig. Ich erwarte in einem Buch über Barrierefreiheit keine Einführung in HTML und CSS. Dafür sind die diese beiden Sprachen und vor allem die Realität ihrer Anwendung zu komplex, als dass man auf 35 Seiten einen Blumentopf gewinnen könnte. Die Autoren hätten bei ihren Lesern profundes Grundwissen in diesem Bereich voraussetzen müssen. Die Diskussion über die richtige Einbindung von Bildern, SVG oder Multimedia-Inhalten in Webseiten ist allerdings wichtig, passt aber in meinen Augen genausowenig zum Oberthema „Experimente“, wie CAPTCHAs, Navigationen, Linktexte und die vielen anderen Inhalte dieses Abschnitts. Lässt man das unnötige Kapitel 4 ausser Acht werden im Abschnitt „Experimente“ wohl die meisten für Entwickler wichtigen Details einer Webseite behandelt.

Im dritten Abschnitt werden Bedingungen für barrierefreie Inhalte besprochen. Wie sollte der Text geschrieben sein? Das immer wieder beliebte Thema „Satzlänge“ taucht hier genauso wieder auf, wie eine Diskussion über Semantik. Auf gut 20 Seiten kümmern sich die Autoren dann um Bilder und deren Alternativtexte. Dieses Thema hatten sie schon einige Seiten zuvor unter „Experimente“ angerissen. Die etwas eigenwillige Sortierung des Inhaltes zerreisst so die Informationen zu einem Kernbereich des Buchthemas.

Etwa 80 Seiten widmen die Autoren dem Thema PDF. Es gibt wenige Informationen im Web über die Sicherstellung von Barrierefreiheit in PDFs. Umso wichtiger ist dieses Kapitel, das ein weiteres Kaufargument für dieses Buch ist.

Es folgen im Buch Betrachtungen über Layouttechniken. Das Thema ist komplex, man kann locker ein eigenes Buch darüber schreiben. Hochachtung dafür, eine grundlegende Betrachtung auf knappen dreissig Seiten unterzubringen.

Nach Formularen wenden sich die Autoren der Tastaturbedienung dynamischer Inhalte zu. Angesichts der vielen leicht zu implementierenden jQuery-Slider ist es wichtig, die Qualität dieser Skripte aus Sicht der Barrierefreiheit zu begutachten. In diesem Kapitel wird besprochen, wie man Javascript barrierefrei anwenden kann. Auch der Nutzen von WAI-ARIA wird angerissen.

Im letzten Abschnitt werden Aspekte des Screendesigns besprochen. Die Autoren kümmern sich um Schriftgrößen, Layouttypen, Kontraste und Farben, Typografie und einiges mehr. Es sind runde 70 Seiten, die nur mittelbar für Entwickler interessant sind und direkt von Designern gelesen werden sollten.

Das Buch ist inhaltsreich, informativ, interessant, anregend, aber nicht perfekt und trotz seines Umfangs tun sich Lücken auf. Die HTML- und CSS-Basics sind wie erwähnt unnötig. An ihrer Stelle hätte eine intensivere Betrachtung von WAI-ARIA Sinn gemacht, das in diesem Buch sehr untergeht. Die Linkliste am Ende des Buches ist eindrucksvoll, macht gedruckt aber wenig Sinn. Ich würde gerne diese Links auf einer Webseite oder im Rahmen eines delicious-Accounts sehen.

Jan Eric Hellbusch und Kerstin Probiesch haben einen grossen Wurf gewagt. Über 700 Seiten Text und viele Seiten informative Anhänge sind das Ergebnis langer, intensiver Arbeit. Das Buch ist in seiner Art ohne Konkurrenz im deutschsprachigen Raum. Es fasst sehr viele Erkenntnisse zusammen, die für die Entwicklung barrierefreier Webseiten wichtig sind. Es ist deswegen in meinen Augen ein sehr wichtiges Kompendium für alle Entwickler und Agenturen, die sich mit barrierefreien Webseiten beschäftigen wollen.

6 Kommentare

  1. Etwa 80 Seiten widmen die Autoren dem Thema PDF. Es gibt wenige Informationen über die Sicherstellung von Barrierefreiheit in PDFs. Umso wichtiger ist dieses Kapitel, das ein weiteres Kaufargument für dieses Buch ist.

    Was möchtest du uns damit sagen? Kein Informationen enthalten, aber trotzdem ein Kaufargument?

    • Jens Grochtdreis

      14. Juni 2011 um 9:23 Uhr

      @Carsten: Ist das so missverständlich formuliert? Es gibt wenige Infos im Web über barrierefreie PDFs. Umso wichtiger sind die Infos auf diesen Seiten, da sie das existierende Wissen kanalisieren. Und da es wirklich wenig zu dem Thema gibt, ist es doch nicht schlecht, sich die Infos nachhause zu holen. Oder?

  2. Hallo Jens,

    man könnte das tatsächlich so verstehen, dass es „wenige Informationen über die Sicherstellung von Barrierefreiheit in PDFs“ IM BUCH gibt. Du meinst aber „ausserhalb dieses Buches“ oder eben „im Web“.

    In Deiner Antwort an Carsten schreibst Du das ja dann auch so 😉

  3. Es geht nie um Spass oder um Experimente. … Deshalb ist es niemals vergnügungssteuerpflichtig, sich mit Informationen über barrierefreie Webseiten auseinanderzusetzen. … Es kann keine Ausnahme machen.

    Warum ist das so und muß das wirklich so sein? Eine Frage die mich schon einige Zeit beschäftigt.

    Abseits davon: Danke für die Rezession. Bin bisher noch nicht dazu gekommen, das Teil zu holen und zu lesen.

    • Das ist sehr interessant und wohl ein Grund, weshalb sich BF so schwer tut.

      Sobald dieser Begriff im Zusammenhang mit Webprojektenfällt, wird gemauert: BF Webseiten sind eine freiwillige Aufgabe, die Möglichkeiten sind (finanziell) begrenzt, ist das denn wirklich notwendig? etc.

      Dennoch „fände man das Thema sehr interessant“ – aber das wars dann auch schon. So meine aktuellen Erfahrungen.

      Die Frage, die sich mir auch gerade stellt:
      Wie können wir als BF-Verfechter das Thema dem unbedarften Anbieter und/oder Nutzer so darstellen, dass es sein Interesse weckt, er daran „Spaß“ hat – sprich: aus Eigenantrieb gewillt ist, sich damit zu beschäftigen.

      Tatsächlich „reite“ auch ich immer auf den Details herum, die zwar sicher wichtig sind, aber eben beim Gesprächspartner kein wirkliches Interesse wecken. Wie also kann man die „Eckpfeiler“ von BF so verpacken, dass sich nicht nur die Webentwickler (und davon auch nur ein geringer Teil) mit dem Thema beschäftigen.

      Vielleicht ein (Gesellschafts-)Spiel, eine lustige App, die vielleicht die eigene Hilflosigkeit, die durch Barrieren entstehen kann, ins Bewußtsein rückt?

      Barrierefreiheit 1.0 konnte sich also nicht so recht durchsetzen, Zeit für Barrierefreiheit 2.0?

  4. Jens Grochtdreis

    15. Juni 2011 um 6:19 Uhr

    @Carsten, @GE: Da ich mich offenbar missverständlich ausgedrückt habe, habe ich den Passus über PDFs präzisiert. Ich hoffe, es ist jetzt besser.