Barrierefreiheit muss sexy sein

Im Nachgang zum A-Tag 2009 entzündete sich ein Streit innerhalb der Barrierefreiheits-Community über Chris Heilmanns Vortrag. Grob gesprochen kämpften Etatisten gegen Individualisten. Die Etatisten setzen auf gesetzlichen Druck zur Durchsetzung von barrierefreien Seiten. Die Indviualisten wollen die Ersteller von Webseiten ermutigen, in die richtige Richtung zu denken und zu handeln.

Ich stehe klar auf Chris‘ Seite. Die jahrelange Geltung einer mittlerweile inhaltlich extrem veralteten BITV hat uns nicht sehr weit gebracht. Viele Webseiten, die barrierefrei sein müßten, sind es noch immer nicht. Und die, die es sind, regen oft nicht zur Nachahmung an. Gerade durch das einzige Mittel Zwang schießt sich die Barrierefreiheits-Community selber ins Knie. Ich finde es ja toll, daß die BARMER-Webseite barrierefrei ist und unter den Top-Seite bei BIK rangiert. Doch leider ist die Abwesenheit eines attraktiven Designs für mich persönlich eine Barriere. Ich möchte diese Seite nicht nutzen müssen.

Warum sehen denn so viele barrierefreie Seiten so uninspiriert und oft auch häßlich aus? Ich nehme an, daß richtig talentierte Designer um dieses Thema meist einen Bogen machen. Viele Seiten sehen so aus, als wären sie vom Entwickler selber entworfen worden. Das muss doch nicht sein! Anstatt sich in Richtliniendetails zu vergraben sollte die Barrierefreiheits-Community mehr Energie darauf verwenden, das Thema zu normalisieren. Eine barrierefreie Seite sollte Selbstverständlich sein, kein Gnadendienst an „den paar Blinden unter unseren Besuchern“. Denn, und das ist auch ein großer Fehler in der öffentlichen Diskussion, meist wird leider in der Diskussion mit Kunden Barrierefreiheit auf Blinde fokussiert.

Ich wünsche mir, daß es sich talentierte Entwickler und Designer zur Aufgabe machen, Barrieren so gut wie möglich aus ihren Entwürfen und Umsetzungen zu verbannen. Sie sollten mit einer spielerischen Einstellung an die Sache herangehen und optimale Ergebnisse anstreben. Dazu benötigen sie Vorbilder wie Chris. Vorbilder, die zeigen, daß selber denken und probieren klug macht.

Es ist deshalb vielleicht keine schlechte Idee von Chris, deutsche Barrierefreiheitskonferenzen in der Zukunft zu meiden. Wenn die Nabelschau der Teilnehmer eine neue Sichtweise nicht zuläßt, dann soll es so sein. Ich glaube allerdings nicht, daß die Realität so schlimm ist. Viel wichtiger sind Typen wie Chris sowieso nicht beim A-Tag und ähnlichen Veranstaltungen. Sie sind viel wichtiger bei Konferenzen, auf denen Barrierefreiheit ein Randthema oder gar kein Thema ist, wie bei der Webinale oder bei der demnächst in Karslruhe stattfindenden WebTech. Dort findet er das Publikum, das für die Idee qualitativ hochwertiger Webseiten begeistert werden muss.

Deshalb hoffe ich, daß Chris und viele andere Barrierefreiheits-Profis nicht müde werden, den Massen an Entwicklern und Designern dort draussen vor Augen zu führen, welche tollen und spannenden Welten es noch zu entdecken gibt. Barrierefreiheit ist eine Herausforderung. Als Zwang funktioniert sie nicht.

12 Kommentare

  1. Das mit Chris kann ich sehr gut nachvollziehen – geht es mir doch schon seit längerem genauso; und auch der Rest deines Posts ist auf den Punkt.

    Ich erinnere mich an genügend Konferenzen in den letzten Jahren in .de, wo immer noch über den theoretischen Unterbau und die Notwendigkeit debattiert wird, statt sich an die Umsetzung zu machen. Und es waren bei allen diesen Konferenzen die erschrockenen Gesichter von Teilnehmern aus dem Ausland zu sehen, die sich wunderten, warum sich hier niemand einfach mal an die Umsetzung macht. Erschrocken darüber, wie stattdessen nach über 10 Jahren mit dem Thema die absoluten Basics immer und immer und immer wieder durchgekaut werden, bis sie niemand mehr hören kann.

    Nur eine kleine Anmerkung zur BITV 1.0 hätte ich noch: bei aller inhaltlichen Kritik – sie war schon ein wichtiges Signal, dass es jede Menge Nutzer im Web gibt, die nicht über den vollen Satz der theoretisch möglichen Fähigkeiten verfügen (sei es sensorisch, motorisch oder kognitiv).
    Und in dem ihr zugedachten Bereich hat die Verordnung auch ganz gut funktioniert – vergleiche doch nur mal (via archive.org), wie grottenschlecht Behördenauftritte bis in die alleroberste Ebene früher waren.
    Da hat sich schon ’ne Menge getan (ok, ausser beim Finanzamt Pirmasens :), und das ist ganz sicher auch ein Verdienst der BITV.

    Das eigentliche Problem ist, dass die Verordnung nur für den Bund (und in der Folge dann für die Länder, wenn auch oft in aufgeweichter Form) gilt. Und dem Vernhemen nach wird sich bei der geplanten Neuauflage nichts daran ändern, dass es
    a. keinerlei Anreize oder Verpflichtungen für die Privatwirtschaft gibt, die Richtlinien ebenfalls einzuhalten und
    b. keinerlei Sanktionen verordnet werden, was im Falle der Nicht-Erfüllung passieren soll.

    An der (mangelnden) Brüssel-Tauglichkeit solcher Vorgabe kann es nicht liegen, sonst gäbe es nicht in anderen EU-Staaten wie England die Androhung, Seiten vom Server zu nehmen, wenn sie nicht den eigenen Richtlinien entsprechen. Oder die österreichische Gesetzeslage, die auch die Privatwirtschaft klar in die Pflicht nimmt. 20 Jahre nach der Schmach von Cordoba finde ich das besonders schmerzhaft zu sehen, wie wir hier von den Nachbarländern abgehängt werden.

    Hier fehlt also der klare Wille, geeignete Vorgaben (die es zweifelsohne gibt, s. deutsche WCAG2-Übersetzung) durchzusetzen (je nach politischer Orientierung mehr oder weniger freiwillig). Und solange das nicht umgesetzt ist, werden auch die leuchtenden Vorbilder fehelen, die du (zu Recht) einforderst. Denn so machen die meisten, die sich mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandersetzen müssen, weiterhin Dienst nach Vorschrift und Checkliste, statt (wie Chris es verlangt) nach kreativen Lösungen zu suchen und zur Not mal auf die Nase zu fallen und es dann noch besser zu machen.

  2. @Der_Caspers:
    Mal völlig Off-Topic …
    „20 Jahre nach der Schmach von Cordoba“
    sind mittlerweile schon 30 schlappe Jährchen, Tomas 😉

  3. Den Webentwicklern fehlen hierzulande offenbar die absoluten Basics und sie können nicht mal eben zur Umsetzung übergehen. Solange das nicht überwunden ist, und dazu sind noch einige Anstrengungen nötig, müssen sich Barrierefreiheits-Profis wohl oder übel damit herumschlagen, immer wieder Leute mühsam über den Unterbau zu informieren. Insofern verstehe ich die Aufregung nicht – und Deutschland zum verlorenen Posten zu erklären hilft sicher nicht weiter.

    Ich bin der BF nicht mehr drin und verfolge diese Diskussion daher aus einer einiger Distanz. Und aus der sieht sie mitunter wie ein erhitzter Streit um Kaisers Bart aus. Lediglich die Feststellung, dass das Thema erst einmal normalisiert und verankert werden muss, indem Entwickler und Designer dafür begeistert werden, beschreibt das Problem m.E. treffend. In dem Bereich hat sich meiner Außensicht zufolge nicht viel getan. Chris‘ Engagement gehört zu den wenigen mir bekannten Ausnahmen.

  4. Die Diskussion um einen notwendigen, gesetzlich festgezurrten „Unterbau“ mutet mir so an, als wäre Barrierefreheit ein völlig isoliertes, extra zu implementierendes Feature. Meines Erachtens erreicht man aber ohne ganzheitlichen Ansatz keine Barrierearmut.
    Ob sinnvolle Überschriftenhierarchie, verständliche Inhalte, Validität oder allgemein semantisch sinngebendes und angereichertes Markup – mehrere Teildisziplinen wie z.B. SEO, Performanceoptimierung, Skalierbarkeit oder Usability – und eben auch Barrierefreiheit – profitieren davon.

    Vielleicht ist die Grundsatzdiskussion des Themas Barrierefreiheit nur ein Teil der Grundsätzlichkeit sauberen Web-Handwerks (sprich: Quelltextqualität).

    Komisch ist natürlich, dass tatsächlich die grafische Gestaltung ausgeklammert wird. Dabei kann ein durchdachtes Design echte Barrieren abbauen. Und dann ist Barrierefreiheit auch sexy. Nicht umsonst kommt die Klage „Das ist mir alles zu unübersichtlich, damit komm ich nicht klar, da wird man ja erschlagen“ so häufig über die Lippen von weniger webaffinen Nutzern.

  5. Ich finde die Barmer Seite ein gutes Beispiel für eine übersichtliche und vermutlich gut benutzbare Seite. Ich kann mir als User nicht vorstellen, was hier jemanden stört. Ich glaube, dass die meisten Leute sich eher an der Anwesenheit eines attraktiven Designs stören, anders läßt sich der Erfolg von ebay, Amazon usw. nicht erklären. aber das ist ein anderes Thema.

    Ansonsten dürfte das von Molily gesagte zutreffen. Die Abneigung gegen das Thema hat sicher oft mit Unwissenheit zu tun. Barrierefreiheit klingt für viele Designer nach einer Barriere für ihre Arbeit, was aber nicht stimmt.

  6. @struppi: Ich mag den Begriff auch aus zwei Gründen nicht. Erstens verspricht er etwas, was nicht gehalten werden kann. Eine Freiheit von Barrieren wird es nicht geben. Das führt zweitens zu einem enorm hohen Anspruch, der die meisten sicherlich vom schlichten Versuch abhalten wird.

    Deshalb habe ich in Wien ja auch dafür plädiert, mit einem anderen Denken an die Sache heranzugehen. Eine Seite soll für möglichst viele Menschen nutz- und erreichbar sein. Es soll keine unnötigen Hürden geben. Mehr ist der ganze Zauber nicht. Es geht um Qualität und den eigenen Anspruch. Und es geht darum, ständig dazuzulernen.

  7. Ein super Vortrag von Christian! Es gehört zu der Art Präsentationen, die mir als Webentwickler einen anderen Blick über den Tellerrand ermöglichen. Völlig unabhängig vom Thema „Barrierefreiheit bei Webseiten“.

    Es wäre ein Jammer, wenn solche Präsentationen im deutschsprachigen Raum in Zukunft verschwinden würden.

    Danke Jens, dass du über diesen Vortrag in deinem Blog berichtest!

  8. Ich finde, dass der Beitrag in diesem Blog gut ist, dass aber eins außer Acht gelassen wird: Warum kann man nicht das Eine tun, nämlich gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, die wie in Österreich und Großbritannien die Webdesigner wirklich in die Pflicht nehmen, und andererseits versuchen, den Webdesignern durch gute Präsentationen klar zu machen, wie Sexie Barrierefreiheit sein kann? Eigentlich müssten die Standpunkte in der Debatte gar nicht so weit auseinander liegen. Gut, ich sehe das ganze von der politischen Seite. Gesetzliche Regelungen sind notwendig, und mein Gott, wir halten uns auch in anderen Bereichen an Gesetze, ohne darüber zu murren. Wenn aber Wendesigner feststellen, was sie alles machen können trotz „Barrierearmut“, dann fällt es ihnen doch leichter, es als Selbstverständlichkeit anzusehen. Das ist es, was ich an diesem Beitrag hier großartig finde, man muss Barrierefreiheit oder Barrierearmut als selbstverständlichen Teil seiner Arbeit als Webdesigner begreifen. Dieser Streit ist kontraproduktiv. Aber das merke ich schon seit Jahren, dass viele Leute, die sich für Barrierefreiheit einsetzen, das mit unglaublichem Formalismus tun. Und wer weiß, dass es vollkommene Barrierefreiheit nicht gibt, der hat schon mal eine wichtige Erkenntnis.

    Ich bin der Meinung, dass eine Aussage wie: „Wir brauchen keine gesetzlichen Regelungen“ grund falsch ist. Aber gesetzliche Regelungen mit Sanktionen müssten dann kaum angewandt werden, wenn möglichst große Barrierearmut zum Grundhandwerkszeug und zum Standard jedes Webdesigners gehörte.

  9. …aber schau mal m.barmer.de auf einem aktuelleren Handy an. DAS ist doch mal wirklich hilfreich, oder?

  10. Danke für diesen informativen Blogbeitrag. Ich habe mir die Präsentation von Chris angesehen und muss sagen: Ich bin beeindruckt!

    Gleichwohl finde ich diesen Lagerkampf „Etatisten gegen Individualisten“ bescheuert. Da haben alle das gleiche Ziel. Nur über den Weg bestehen unterschiedliche Vorstellungen. Und was machen die dann da: Bekämpfen sich gegenseitig anstatt ihre Kräfte gemeinsam für das hehre Ziel Webseiten zugänglicher/barriereärmer zu machen zu bündeln.

    Das Ganze erinnert mich stark an das Leben des Brian, in der die Kampagne fuer ein freies Galilaea und die Volksfront von Judaea den gemeinsamen Feind Römer haben, aber sich selbst gegenseitig umbringen.

    Wie auch immer: Warum nicht das eine tun und das andere nicht lassen?
    Den größten Fortschritt in Sachen Abbau von Barrieren im Netz dürfte es nach meiner unmaßgeblichen Meinung geben, wenn beide Wege verfolgt werden. Es bedarf einer gesetzlichen Pflicht möglichst barrierearme Webseiten zu erstellen und einer Überzeugung der Massen durch Überzeugungstäter. Denn die beste gesetzliche Regelung taugt ohne Umsetzung und Sanktionen nix. Amen! 😉

  11. @jens @caspers

    Ich habe ebenfalls den Eindruck gewonnen, dass nach jeder Barrierefreiheitskonferenz die Aufforderung aus der Entwicklerszene kommt: „Barrierefreiheit muss endlich auch sexy werden“. Bei den anschließenden Diskussionen gewinne ich fast jedes Mal den Eindruck, ich sitze in dem Film: „Und ewig grüßt das Murmeltier“. Jedes Jahr findet das gleiche statt, wir diskutieren uns die Köpfe heiß und geilen uns an Details hoch. Schreiben bei Twitter oder in Blogbeiträgen: Hey, Barrierefreiheit muss endlich zur Normalität in Agenturen werden und kann auch Spaß machen und kann total geil sein. Man könnte fast meinen, wir müssen uns fast selbst Mut zusprechen um nicht völlig zu verzweifeln.

    Anstatt zu machen, wird diskutiert und diskutiert und diskutiert… Ich bin nun wirklich kein Pessimist, aber wenn in Deutschland die Diskussion so weiter geführt wird, wie bisher, dann sitzen wir in 10 Jahren immer noch hier und fordern: „Barrierefreiheit muss endlich sexy werden.“ Das Ausland schüttelt immer noch den Kopf, während wir immer noch eine Standortdiskussion führen. Ich will hoffen dass ich Unrecht habe und wir in 10 Jahren weiter sind als heute.

    Wie gering die Beachtung von Barrierefreiheitsthemem bei den Besuchern von „normalen“ Konferenzen ist, konnte ich z.B. auf der Mensch und Computer 2009 Tagung in Berlin (HCI 2009) beobachten. Vorträge über Barrierefreiheit waren vergleichsweise schwach besucht. Ich mag nicht einschätzen woran es gelegen hat. Ich denke nicht bei den Veranstaltern. Hier ist der Wille vorhanden, Barrierefreiheit mit aufzunehmen und in seiner Vielfältigkeit zu diskutieren. Vielleicht ist Barrierefreiheit für die Besucher der HCI 2009 nicht interessant genug gewesen. Was ich eigentlich nicht glaube. Ich denke der Kontext in denen die Thematik gestellt wird, zog bei den Besuchern nicht. Die klassische Ausrichtung auf die BITV oder die 365 Betrachtung des theoretischen Unterbaus stellt das Thema ins aus.

    Ich bin mir sicher dass für Barrierefreiheitsthemem viel Luft nach oben ist. Zumindest konnte ich das bei meinem Vortrag feststellen. Mit meinem Vortrag wollte ich den Bogen spannen, zwischen WCAG 2.0, Usability und Accessibility. Mein Thema war: WCAG 2.0 mehr als nur ein Standard, Synergien zwischen Usability und Accessibility. Ich war total überrascht wie groß das Interesse an dem Vortrag war. Der Raum war bis auf den letzten Platz besetzt und der Rest musste stehen. Ich habe zwar nicht gezählt, aber es waren ca. 140 Zuhörer. Auch die anschließende Resonanz hat mich überrascht, nicht nur bei Entwicklern, auch bei Konzeptern und Projektmanagern. Vielleicht war es die Koppelung an das Thema Usability, die letztlich gezogen hat. Wie dem auch sei, ich bin froh dass ich recht viele Teilnehmer erreichen konnte. Wenn die Teilnehmer nur einen gewissen Teil mitgenommen haben, war das eine kleiner Erfolg.

    Vielleicht fehlt uns in Deutschland der Mut Barrierefreiheit an populäre Themen wie Usability oder User Expierence zu koppeln. Anstatt Barrierefreiheit so lange im eigenen Saft zu kochen bis auch der letzte Rest an Aromen und Geschmackstoffen zerkocht wurde.

  12. @Peter: Du hast vollkommen recht, daß wir Barrierefreiheit an andere Themen koppeln müssen. Aus zweierlei Gründen: zum einen erreicht man damit mehr Leute und zum anderen ist das Thema sowieso keine Insel.

    Wenn ich die Menschen dadurch erreiche, daß ich „Suchmaschienoptimierung“ und „iphone“ noch irgendwo reinstreue, dies dann auch am Rande erwähne, ist der Sache doch geholfen 🙂 Es ist nicht wirklich sauber, kann aber funktionieren.

    Auf alle Fälle müssen wir von der bisherigen Nabelschau weg. Neben der Wiederholung des Altbekannten für die Neuhinzukommenden benötigen wir auch neue Ansätze.